Nahaufnahme des Auges eines Deutschen Schäferhundes

Das Beinahe-Drama

Manchmal wird es ganz plötzlich dramatisch im Leben. Hundebesitzer wissen, dass das gern zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt geschieht: abends oder am Wochenende, wenn die Tierarztpraxis geschlossen hat. Oder wenn eigentlich ganz andere Ereignisse im Vordergrund stehen, die sich nicht mal eben so verschieben lassen.
Ein solches Drama hatte ich vor einigen Jahren bei mir in der Praxis stehen: Vito, ein bildschöner, stattlicher Schäferhundrüde war als Notfall angekündigt. Nun ist eine Praxis für Hundephysiotherapie ganz sicher nicht der Ort, den man mit einem medizinischen Notfall beim Hund aufsucht – aber der Reihe nach.

Photo by Aniruddh Dixit on Unsplash

Ein Notfall!

Bei Vito war im Alter von ungefähr 5 Jahren ein Cauda-Equina-Syndrom diagnostiziert worden. An seinen schlechteren Tagen erhielt er Schmerzmittel, ansonsten kam er im Alltag gut zurecht und gelegentlich zu mir in die Behandlung. Er war Frauchens großer Schatz und wurde entsprechend betüddelt und geliebt. Da „Familie Vito“ im selben Ort wohnte, begegneten wir uns gelegentlich mit den Hunden beim Spazierengehen und liefen ein Stück der Strecke gemeinsam. Besagte junge Frau lag nun zum Zeitpunkt des Geschehens zur anstehenden Entbindung ihres erstens Kindes im Krankenhaus. Herrchen hatte den Auftrag und dazu das hochheilige Versprechen abgegeben, sich um Vitos Wohlergehen zu kümmern.

Die beiden Jungs waren auf einem ausgedehnten Spaziergang unterwegs, als Vito plötzlich zusammenbrach und nicht mehr aufstehen konnte. Nun musste der Mann nicht nur den großen Hund zum Auto tragen, sondern auch noch seiner bereits in den ersten Wehen liegenden Gattin berichten, was passiert war. Diese schickte ihn in ihrer Verzweiflung zu mir, damit ich ihrem Mann erklären würde, zu welcher Klinik er den Hund zur Diagnostik bringen könne und worauf er zu achten habe. Normalerweise ist das ganz sicher nicht die beste Anweisung für einen plötzlich eintretenden Notfall – bitte nicht nachmachen! Aber in diesem speziellen Fall war es ausnahmsweise tatsächlich eine intuitiv gute Entscheidung, wie sich später herausstellte.

Panikmodus

Mir wurde regelrecht übel, als die Besitzerin ihren Mann und Hund telefonisch bei mir ankündigte. Sie war (verständlicherweise) völlig aus dem Häuschen, weinte vor Verzweiflung und rang mir das Versprechen ab, schlimmstenfalls mit in die Tierklinik zu fahren. Ich solle bitte dafür sorgen, dass Vito die bestmögliche Behandlung erhalten würde und sie auf dem Laufenden über seinen Zustand halten. Nun rückte also Herrchen mit einem Kofferraum voll unglücklichem Schäferhund an, hob den Hund aus dem Auto und staunte nicht schlecht, als Vito mich – zwar humpelnd, aber doch auf eigenen Beinen stehend – mit zaghaftem Schwanzwedeln vor der Praxis begrüßte.

Wir staunten gemeinsam noch mehr, als der Rüde selbstständig die wenigen Treppenstufen im Eingangsbereich erklomm und sich im Behandlungsraum auf die Matte fallen ließ. Laut Besitzer hatte der Hund bis vor wenigen Minuten nur wie ein nasser Sack in seinen Armen gehangen, an Stehen oder gar Gehen war nicht zu denken gewesen. Als ich Vito vorsichtig abtastete, stellte ich verwundert fest, dass der Rücken – auch im Cauda-Bereich – kein bisschen schmerzhaft war. Beim Durchbewegen der Hinterhand kam aber plötzlich ein Aufschrei! Es war jedoch nicht die Hüfte und auch nicht das Knie: Ich hatte seine Pfote locker in der Hand gehalten und damit offenbar eine Schmerzreaktion ausgelöst.

Die Auflösung

Eine sehr deutliche Reaktion, denn Vitos Zähne hätten beinahe meine Hand erwischt. So untersuchte ich die Pfote mit äußerster Vorsicht, während Herrchen Vitos dicken Kopf fest in seinen Händen hielt. Des Rätsels Lösung war genauso einfach, wie wunderbar: Der stattliche Rüde hatte sich das Horn einer Kralle abgerissen und war dadurch „bewegungsunfähig“ geworden! Kein schweres Cauda Equina-Syndrom, kein Bandscheibenvorfall, kein „Sofort-in-die-Tierklinik“-Notfall – lediglich eine ausgerissene Kralle. Eine Krallenverletzung kann sehr schmerzhaft sein, das steht außer Frage. Aber in diesem Fall war sie Grund zu großer Freude und Erleichterung und uns standen tatsächlich die Glückstränen in den Augen.

Wer tauscht nicht sofort und freiwillig eine abgerissene Kralle gegen einen Cauda-Equina-Notfall mit womöglich unumgänglicher Operation und ungewissem Ausgang? Das telefonisch sogleich benachrichtigte Frauchen weinte zunächst ein bisschen vor Erleichterung (oder vielleicht auch wegen der Wehen), um ihren Hundeschatz im Anschluss mit einer Tirade nicht sehr stubenreiner Ausdrücke zu beschimpfen. Der große Kerl hatte uns alle aber auch wirklich in Angst und Schrecken versetzt, da darf man seiner Erleichterung in jeder Form Luft machen. Und erst recht, wenn man gerade eigentlich mit Kinderkriegen beschäftigt ist.

Und die Moral von der Geschicht‘…

…die gibt es nicht. Mein persönliches Fazit aus dieser Begebenheit ist jedoch: Ruhe bewahren. Und einen klaren Kopf. Das kann schon eine Herausforderung darstellen, wenn man den Hundepatient bereits eine Weile kennt und ein klar definiertes gesundheitliches Problem quasi als Dauerbaustelle vorliegt. Aber es hilft einfach niemandem (und dem Hund schon gar nicht!), voreilige Schlüsse zu ziehen, statt erst einmal genau und gründlich nachzusehen. Die weiterführende Untersuchung findet dann natürlich beim Tierarzt beziehungsweise in der Tierklinik mit Notdienst statt – sicher nicht in der Hundephysiopraxis. Auch wenn der hier beschriebene Fall eines der besten Happy Endings hatte, die ich erleben durfte.

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