Mein Freund – wir müssen reden.
Da liegst du neben mir auf dem Sofa und hast deine Pfote auf meinen Unterarm gelegt. Für mich ziemlich unbequem – trotzdem wage ich nicht, mich zu bewegen und genieße den Moment sehr. Denn du bist alt geworden und ich weiß nicht, wie oft ich noch in den Genuss solcher Situationen kommen werde. Eigentlich bist du noch gar nicht so alt. Aber du hattest ein bewegtes Leben und hast gesundheitlich einiges durchgemacht.
Vielleicht bist du dadurch "vor der Zeit" gealtert (welche Zeit ist damit eigentlich gemeint?). In den letzten Monaten jedenfalls zunehmend und in den vergangenen Wochen noch deutlicher. Du siehst – mit Verlaub – mittlerweile echt klapprig aus. Dass du das tatsächlich bist, zeigt sich bei vielen Gelegenheiten in unserem Alltag. Selbst wenn du immer noch behauptest, dass nichts ein Problem wäre und du natürlich noch alles allein kannst. Und das dann auch durchziehst, wenn ich nicht rechtzeitig eingreife.
Carpe diem?
Sagen wir es mal ganz deutlich: Ohne deine unbändige Lebensfreude und Dickköpfigkeit, ohne deine Intensität, mit der du (schon immer) durch dein und mein Leben polterst, wärst du längst nicht mehr hier. Wir leben schon lange von geborgter Zeit: Wer dem Krebs in jungen Jahren die Mittelkralle gezeigt hat, trotz "Rücken" ein vielseitiger und äußerst begabter Suchhund wurde, wer mehrfach aus den unterschiedlichsten Gründen als Notfall in der Klinik war, der darf auch ein bisschen älter aussehen, als er ist.
Man sollte meinen, ich hätte längst gelernt, damit umzugehen. Du bist schließlich nicht mein erster Hund und wir tanzen diesen Tanz zwischen guten und schlechten Zeiten schon fast dein ganzes Leben lang. Aber ich bin noch nicht bereit. Ich kann mich nicht damit abfinden, dass ich "im Moment leben" oder "den Augenblick genießen" soll. Nicht, wenn ich dabei zusehen muss, wie es dir nicht wirklich gut geht. Ich habe Sorge, irgendetwas zu übersehen, irgendeine Chance noch nicht genutzt zu haben, dir zu helfen.
Einfach trotzdem!
So ein ganz klein bisschen bist du daran durchaus beteiligt: Du springst immer noch selbstständig ins Auto und ich muss schnell sein, um deinen kleinen – ehemals dicken – Cattlepopo vor dem Absturz zu bewahren. Du brüllst dem Postboten immer noch zu, dass er sich gefälligst verp*ssen soll und "rennst" durch den Garten, um die Nachbarskatze zu verjagen. Du sammelst unterwegs Bonbonpapierchen auf und zeigst mir Wanderwegschilder an, weil es dafür Kekse gibt.
Du frisst mit großem Appetit und vertilgst unglaubliche Mengen an Futter. Unsere Gassi-Strecken werden zwar kürzer und du läufst inzwischen eher hinterher, als vorneweg, aber du brüllkreischst noch immer, wenn es losgeht. Du hast weiterhin Spaß an Suchaufgaben, auch wenn du nicht mehr so konzentriert und präzise bist und nach kurzer Zeit müde wirst. Du bist ein Paradebeispiel dafür, was alles KEIN Hinweis darauf ist, dass es einem Hund tatsächlich gut geht.
Achterbahnfahrt
Für mich ist das ein tägliches – manchmal stündliches – Wechselbad der Gefühle. Eben noch schläfst du auf dem Sofa und ich betrachte wehmütig dein ergrautes, eingefallenes Gesicht – im nächsten Moment schießt du hoch und veranstaltest Großalarm, weil der Paketdienst vor dem Haus hält. Beim Spaziergang trödelst du herum und ich muss immer wieder auf dich warten (auf dich, der sonst kaum zu bremsen war...) – zuhause angekommen holst du eine Socke aus dem Bad und schlenkerst sie dir fröhlich hüpfend um die Ohren.
Das macht mich manchmal echt fertig. Und ich fürchte, dass ich auch in unserer Tierarztpraxis inzwischen erheblich an Glaubwürdigkeit eingebüßt habe... Da vereinbare ich einen Termin, weil es dir gerade wirklich dreckig geht, führe Gespräche mit ernstem Hintergrund bezüglich der Vorbereitung auf "Tag X" – und du tanzt vergnügt durch die Praxis, während ich mich nicht entscheiden kann, ob ich jetzt lachen oder weinen soll. "Irgendwann, aber jetzt noch nicht!", scheinst du zu sagen.
Kein Meer für uns
Überhaupt: Tierarztbesuche. Darin bist du inzwischen Profi. Zum Röntgen auf der Seite liegen kannst du auf Signal und hältst perfekt still. Blut abnehmen lassen? Eine deiner leichtesten Übungen. Auf dem Rücken liegen, Bauch rasieren lassen und liegen bleiben, um eine ausführliche Ultraschall-Untersuchung zu ermöglichen – gar kein Thema. Allerdings standen wir nach unzähligen, teils wirklich teuren Untersuchungen meist ohne eindeutiges Ergebnis da, trotz manchmal regelrecht dramatischer Symptomatik.
Das geht an die Substanz. Nicht nur die der Nerven, auch die der Finanzen. Was im Umkehrschluss dazu führt, dass die Sache mit "den Augenblick genießen" nicht gar so idyllisch gestaltet werden kann, wie ich mir das wünschen würde. Ich wäre so gern noch einmal mit dir ans Meer gefahren – wir waren genau ein einziges Mal zusammen dort und du hattest den Spaß deines Lebens. Aber vielleicht geht es auch hier einfach darum, das zu genießen, was man hat. Und noch habe ich dich.
Wunsch und Wahrheit
Mein Freund, ich beneide dich sicher nicht um all deine körperlichen Gebrechen, deine Schmerzen und was dich zeitweise sonst noch plagt. Aber ich bewundere deine unglaubliche Energie, mit der du dein und unser aller Leben noch immer füllst. Darum, dass du aus allem immer den größtmöglichen Spaß herausholst. Du kannst das perfekt: den Moment genießen. Und weil du uns alle gern dabei einbeziehst, muss ich in solchen Momenten nicht sehnsüchtig ans Meer denken, sondern kann deine Freude am Leben einfach teilen.
Ich würde mir für dich (und irgendwie auch für mich) wünschen, dass du ohne diese Einschränkungen alt werden dürftest. Weil das Leben aber kein Wunschkonzert ist, versuche ich nach Kräften, dir so viel Lebensqualität wie nur irgend möglich zu verschaffen. Das, was du mir immer gegeben hast und was du noch immer gibst, kann kein Geld oder Besuch am Meer aufwiegen. Du bist zwar anstrengend, aber du bist genau der, der du sein sollst. Und du bist das Beste, was mir passieren konnte.